Hinweis für Betroffene beim Lesen des Textes: Mögliche Auslösereize für Betroffene sind in diesem Text nicht durch "*" maskiert worden.
Die Dissoziative Identitätsstörung - besser bekannt als Multiple Persönlichkeitsstörung - ist bis heute eine der umstrittensten psychiatrischen Diagnosen. Sie bezeichnet das Vorhandensein von zwei oder mehr unterscheidbaren Identitäten oder Persönlichkeitszuständen, die wiederholt die Kontrolle über das Verhalten der betroffenen Person übernehmen. Die Erkrankung wird meist von einer Reihe anderer Symptome begleitet, so dass es häufig zu Fehldiagnosen kommt. Als Ursache für die Dissoziative Identitätsstörung wird wiederholter Missbrauch in der Kindheit angenommen. Die Aufspaltung in zwei oder mehr Teilidentitäten kann als Versuch verstanden werden, mit dem erlebten Trauma zurechtzukommen: Das reale Geschehen wird vom Bewusstsein abgetrennt. Die Behandlung der Multiplen Persönlichkeitsstörung ist meist langwierig. Ziel ist es, eine größtmögliche Stabilisierung des Betroffenen zu erreichen. Neben der Alltagsbewältigung stehen dabei das Kennenlernen und die Kooperation der Teilidentitäten untereinander im Vordergrund. Soweit möglich, sollte die Verarbeitung der traumatischen Erlebnisse in die Therapie mit einbezogen werden. Eine Integration und Verschmelzung der Teilidentitäten wird von vielen Betroffenen als Therapieziel abgelehnt.
Allgemeines
Das wohl bekannteste Beispiel für die Dissoziative Identitätsstörung ist die Schilderung des Wechsels von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Auch in der Autobiographie von Karl May finden sich nach Ansicht von Forschern Hinweise darauf, dass er unter dieser Erkrankung gelitten habe: Besser bekannt unter dem älteren Begriff "Multiple Persönlichkeitsstörung" versteht man unter diesem Phänomen das Vorhandensein von zwei oder mehr unterscheidbaren Identitäten oder Persönlichkeitszuständen, die wiederholt die Kontrolle über das Verhalten der Person übernehmen. Als Ursache wird wiederholter Missbrauch in der Kindheit angenommen.
Kaum eine andere psychiatrische Diagnose ist so umstritten wie die der Dissoziativen Identitätsstörung. Nachdem in den 70er Jahren einige Fälle dieser Erkrankung bekannt wurden und ausführlich in den Medien darüber berichtet wurde, kam es zunächst zu einem starken Anstieg dieser Diagnose. Damit verbunden wurde auch Kritik laut: Die Störung sei ein Produkt der Therapeuten, die Missbrauchserlebnisse und die multiplen Persönlichkeiten seien den Patientinnen eingeredet worden. Auch wurden in den USA einige Gerichtsverfahren bekannt, in denen die Angeklagten auf Unzurechnungsfähigkeit plädierten, da sie zur Tatzeit in einem anderen Persönlichkeitszustand gewesen seien - in vielen Fälle konnte den Angeklagten jedoch nachgewiesen werden, dass sie simuliert hatten, um eine Strafe zu umgehen. Obwohl die Dissoziative Identitätsstörung 1980 Einzug in das internationale Diagnosesystem für psychische Störungen gefunden hat, hält die Diskussion über die Existenz dieser Störung weiterhin an. Das in den letzten Jahren gestiegene Bewusstsein für die Häufigkeit sexuellen Missbrauchs und nicht zuletzt die Aufdeckung von "Kinderschänderbanden" hat aber zu einer größeren Akzeptanz dieser Diagnose geführt.
Oft werden in der Alltagssprache Multiple Persönlichkeitsstörung und Schizophrenie fälschlicherweise gleichgesetzt: Während es bei Schizophrenen im Rahmen eines Größenwahns zu einer Identifikation mit einer anderen Person kommen kann, existieren bei der Dissoziativen Identitätsstörung zwei oder mehr Persönlichkeiten in einer Person. Auch sprechen Personen, die unter einer Dissoziativen Identitätsstörung leiden, nicht auf dieselben Medikamente an, die in der Behandlung von Schizophrenie eingesetzt werden.
Der Begriff "Dissoziative Identitätsstörung" beinhaltet schon die Grundannahme zur Entstehung dieser Erkrankung: Dissoziieren bedeutet trennen, auflösen. Dissoziation bezeichnet den Prozess, in dem Teile des Erlebten von anderen inhaltlich getrennt werden, wenn das Erlebte ein Übermaß an Angst, Schmerz oder Trauer verursacht.
Es wurde festgestellt, dass 96% aller Betroffenen, die an einer Dissoziativen Identitätsstörung leiden, in frühster Kindheit (meist vor dem 5. Lebensjahr) fortgesetzt sexuellem oder körperlichem Missbrauch ausgesetzt waren oder stark vernachlässigt wurden, bis hin zur Verwahrlosung. Bei 80% dieser Patienten ließen sich alle drei Formen der Traumatisierung nachweisen. In besonders gravierenden Fällen waren die Kinder Opfer rituellen Missbrauchs im Rahmen von Sekten oder Kulten. Bei den übrigen 4% fand sich, dass die Betroffenen als Kinder während einer Operation aus der Narkose aufgewacht waren. Bei diesen Patienten ist die Erkrankung meist weniger stark ausgeprägt und es finden sich weniger Teilidentitäten.
Grundlage der Entstehung einer Dissoziativen Identitätsstörung ist also das Erleben eines schweren Traumas in der frühen Kindheit. Es wird angenommen, dass schon zu diesem frühen Zeitpunkt die Aufspaltung in verschiedene Persönlichkeitsanteile beginnt: Ein Kind erlebt fortgesetzt Gefahr und Erniedrigung, denen es nicht entfliehen kann. Auch kann es nicht um Hilfe rufen, denn meist ist es ein naher Angehöriger, der ihm dieses Leid zufügt und es wurde ihm gedroht, nichts von den Erlebnissen zu erzählen. Um nun diese Situation überstehen zu können, wird es einen Mechanismus entwickeln, um dem Schmerz zu entfliehen: Das reale Geschehen wird vom Bewusstsein abgetrennt; das Kind "denkt" sich aus der Situation hinaus. Dieser Prozess geschieht unbewusst und kann von den Betroffenen nicht gesteuert werden. Um die wiederholte Traumatisierung überstehen zu können, spalten die Betroffenen sich in zwei oder mehr Identitäten auf: Jede übernimmt bestimmte Funktionen in den jeweiligen Situationen und kann in einer ähnlichen Situation wieder zum Vorschein kommen.
Mit der Zeit entsteht ein System von Teilpersönlichkeiten, die alle ihre Aufgaben haben: So entstehen z.B. Helferpersönlichkeiten, die versuchen den Betroffenen zu schützen, indem Situationen vermieden werden, in denen ein Missbrauch stattfinden könnte. Andere Teilpersönlichkeiten können z.B. dafür sorgen, dass der Betroffene mit den Anforderungen in der Schule zurechtkommt. Die Aufspaltung ist ein fortschreitender Prozess: Wurde die Dissoziation als Erleichterung empfunden, gelingt die Aufspaltung bei späteren Traumatisierungen immer leichter. Innerhalb einer Situation können sich dann mehrere Teilidentitäten in ihrer Präsenz ablösen, um so dass Leiden zu verteilen. Dieser vom Kind unbewusst angewendete Schutzmechanismus dient dazu, das zugefügte Leiden psychisch überleben zu können. Im Erwachsenenalter wird diese Überlebensstrategie aber zu einer Belastung für die Betroffenen, da es sie in der Alltagsbewältigung behindert.
Grundvoraussetzung für die Abspaltung von Teilidentitäten ist die psychobiologische Fähigkeit zur Dissoziation, die insbesondere bei Kindern stark ausgeprägt ist: In besonders bedrohlichen Situationen wird die Informationsweiterleitung im Gehirn z.T. blockiert. Zum Schutz der Person arbeiten einige Hirnregionen nicht weiter - so wird der Betroffene auch vor Erinnerungen an die belastende Situation geschützt. Dieser Schutzmechanismus funktioniert aber nicht vollständig, so dass später auch scheinbar neutrale Reize (z.B. die gleiche Tapete wie im Kinderzimmer) einschießende Gedanken hervorrufen können, die an die belastenden Erlebnisse erinnern. Die Dissoziation löst im System der Teilpersönlichkeiten bei vielen Betroffenen einen großen inneren Druck aus. Häufig wird dann selbstverletzendes Verhalten eingesetzt, um diesen Druck abzubauen und den Kontakt zur Realität wieder herzustellen.
Schätzungen, wie häufig die Multiple Persönlichkeitsstörung auftritt, schwanken stark, es finden sich Zahlen von 1:5.000 bis zu 1:2.500.000. Unter stationären psychiatrischen Patienten wurde bei ca. 5% eine Dissoziative Identitätsstörung diagnostiziert. Frauen sind etwa viermal häufiger als Männer betroffen.
Das Erscheinungsbild der Dissoziativen Persönlichkeitsstörung ist sehr vielfältig. Gemeinsames Merkmal der verschiedenen Erscheinungsformen ist, dass zwei oder mehr(manchmal bis zu 100) voneinander unterscheidbare Identitäten oder Persönlichkeitszustände in einer Person existieren. Von diesen übernehmen mindestens zwei wiederholt die Kontrolle über das Verhalten. Die Person, die den Großteil des normalen Alltags bestreitet, wird als "Host" (englisch: Gastgeber), die Teilpersönlichkeiten als "Alters" (abgeleitet von englisch: alternate, sinngemäß: anders, verändert) bezeichnet. Bei allen Betroffenen treten Gedächtnislücken auf. Der Host ist sich der anderen Persönlichkeitszustände nur teilweise bewusst, so dass er sich auch nicht an deren Handlungen erinnert. Viele Betroffene berichten, dass sie manchmal nicht wissen, wie sie an den Ort gekommen sind, an dem sie sich befinden; wer die Person ist, die sie eben gegrüßt hat oder wer den Einkaufszettel auf ihrem Tisch geschrieben hat. Die verschiedenen Identitäten unterscheiden sich meist deutlich: Sie haben verschiedene Namen, unterschiedliche Vorlieben und Verhaltensweisen Es zeigen sich auch physiologische Unterschiede, so kann z.B. eine Teilpersönlichkeit allergisch auf eine Substanz reagieren, die andere aber nicht. Die Charaktereigenschaften des so genannten Alters stehen häufig im Gegensatz zur primären Person (dem Host). Das Ausmaß, in dem die verschiedenen Identitäten untereinander kooperieren (d.h. untereinander Zugriff auf die Erinnerungen und Handlungen haben und den Wechsel der Teilpersönlichkeiten koordinieren können), ist bei den Betroffenen unterschiedlich stark ausgeprägt.
Im Rahmen der Dissoziativen Identitätsstörung treten häufig eine Reihe von Begleitsymptomen auf:
- Depressionen
- Erinnerungsbilder von traumatischen Erfahrungen ("Flashbacks"), die oft durch scheinbar "neutrale" Reize ausgelöst werden (häufig werden deshalb in Texten zur Dissoziativen Identitätsstörung mögliche Reizwörter durch "*" maskiert, so z.B. s*xuelle M*sshandlung)
- Ängste
- Selbstverletzendes Verhalten und Suizidversuche
- Aggressionen
- Kopfschmerzen
- Alkohol- oder Drogenmissbrauch
- Essstörungen
- Zwanghaftes Verhalten/li>
- Stimmen (der anderen Teilpersönlichkeiten) hören
Aufgrund der Vielzahl dieser Begleiterscheinungen erhalten die Betroffenen häufig zunächst eine falsche Diagnose und werden zunächst erfolglos, z.B. wegen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, Schizophrenie oder Depression behandelt. Vom Auftreten der ersten Symptome bis hin zur zutreffenden Diagnose vergehen im Durchschnitt 6 - 7 Jahre. Viele Betroffene scheuen sich auch, von ihren Gedächtnislücken und merkwürdigen Begebenheiten, z.B. unbekannten Kleidern im Schrank, zu erzählen, die einen wichtigen Hinweis für das Vorliegen einer Dissoziativen Identitätsstörung liefern würden.
Die Dissoziative Identitätsstörung tritt meist in der frühen Kindheit auf, wird aber selten vor dem Erwachsenenalter festgestellt. Im Verlauf zeigen sich häufig Schwankungen - dabei treten die Symptome bei manchen Betroffenen nur phasenweise auf, während sie bei anderen anhaltend vorhanden sind. Eine Verstärkung der Symptomatik steht häufig im Zusammenhang mit Belastungen und traumatischen Erfahrungen. Unbehandelt verläuft die Erkrankung meist chronisch, wobei es mit steigendem Lebensalter häufig zu einer Verringerung der Symptome kommt.
Für viele Betroffene gestaltet sich die Suche nach einem geeigneten Therapeuten schwierig. Zum einen haben viele der Patienten schon schlechte Erfahrungen mit Behandlungen aufgrund falscher Diagnosen gemacht. Zum anderen fällt es Personen, die unter einer Dissoziativen Identitätsstörung leiden, häufig schwer Vertrauen zu fassen. Dies ist aber für sie die notwendige Bedingung, um sich auf die Therapie einlassen zu können. Es empfiehlt sich für die Betroffenen, einen Therapeuten aufzusuchen, der sich auf die Behandlung von traumatisierten Personen spezialisiert hat. Eine Therapie bei Dissoziativer Identitätsstörung dauert meist über vier Jahre - eine Dauer die leider oft nicht vollständig von den Krankenkassen bezahlt wird.
Das generelle Ziel der Therapie sollte es sein, größtmögliches Wohlbefinden und Stabilisierung für den Patienten zu erreichen. Es ist umstritten, ob dies nur nach einer gelungenen Integration der Teilidentitäten gelingen kann: Viele der Betroffenen lehnen dies als Ziel der Behandlung ab. Bei Bedarf kann eine medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva und Beruhigungsmitteln durchgeführt werden, die sich allerdings allein auf die Symptome auswirkt.
Die Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung verläuft in verschiedenen Phasen, die je nach Patient von unterschiedlicher Dauer sein können und unter Umständen wiederholt durchlaufen werden:
- Zunächst steht der Aufbau der therapeutischen Beziehung im Vordergrund, die es dem Patienten ermöglichen soll, sich auf die Therapie einzulassen. Daneben stellt die Stabilisierung des Betroffenen ein wichtiges erstes Ziel dar: Es wird mit dem Betroffenen erarbeitet, wie er seinen Alltag besser bewältigen kann. Zusätzliche belastende äußere Umstände (z.B. unzureichende Tagesstruktur, ungünstige Wohnsituation) sollten nach Möglichkeit verändert werden.
- Im zweiten Schritt steht die Förderung der Kommunikation und Zusammenarbeit der verschiedenen Teilidentitäten untereinander im Vordergrund. Es geht dabei darum, die verschiedenen "Alters" kennen zu lernen, jedes einzelne ernst zu nehmen, ihre Beziehungen untereinander zu klären und eine gegenseitige Unterstützung (z.B. im Umgang mit Erinnerungsbildern) aufzubauen.
- In der anschließenden Phase sollte schonende Bearbeitung des Traumas stattfinden. Dies erfordert ein besonders vorsichtiges Vorgehen, da der Patient darin unterstützt werden soll, sich den belastenden Erinnerungen zu stellen, ohne zu dissoziieren. Ziel ist es dabei, das Erlebte als Bestandteil der Vergangenheit anzunehmen, ohne dass alte Auslösereize immer weiter die belastenden Erinnerungsbilder auslösen. Eine effektive Technik zur Traumabearbeitung ist das Eye Movement Desensitization Reprocessing (EMDR): Der Patient wird angeleitet, von dem traumatischen Erlebnis zu berichten während er schnelle Augenbewegungen ausführt. Es hat sich gezeigt, dass diese Kombination von Augenbewegung und Konfrontation mit dem Trauma die Verarbeitung des Erlebten erleichtert. Die Augenbewegung übt eine Stimulation auf das Gehirn aus, durch die Blockaden gelöst werden.
- In der abschließenden Phase wird die Integration und Verschmelzung der Teilidentitäten angestrebt. Ziel dabei ist es, dass der Betroffene sich wieder als eine einzelne Person erleben kann und lernt, seine Vergangenheit als Teil seines Lebens zu akzeptieren. Dabei ist es wichtig zu beachten, ob der Betroffene diese Integration als Therapieziel anstrebt und gegebenenfalls seine Wahl, seine Identitätsvielfalt beizubehalten, zu respektieren.
Bei Betroffenen, die Opfer rituellen Missbrauchs waren, müssen in der Behandlung auch Bewusstseins-Kontrolltechniken berücksichtigt werden, die z.B. in Kulten eingesetzt werden, um Opfer zum Dissoziieren zu "programmieren". Mit Hilfe von Deprogrammierung sollen diese Kontrollmuster gelöscht werden.
Bei der Therapie der Dissoziativen Identitätsstörung sollten immer die individuellen Möglichkeiten und Bedürfnisse des einzelnen Patienten im Vordergrund stehen. So kann es im Sinne einer größtmöglichen Stabilisierung z.B. sinnvoll sein, auf die Bearbeitung der traumatischen Erlebnisse zu verzichten, wenn dies eine dauerhafte Überforderung des Betroffenen darstellt.
Zur Prognose der Dissoziativen Identitätsstörung finden sich in der Literatur nur wenig Angaben. Generell gilt, dass die Erkrankung ohne Behandlung meist chronisch verläuft; dass aber auch nach langjähriger Behandlung für die Betroffenen oft in Teilbereichen Probleme bestehen bleiben. Durch die Entwicklung des EMDR als Behandlungsmethode für traumatisierte Patienten hat sich allerdings die Prognose in den letzten Jahren deutlich verbessert. Einfluss auf den Verlauf der Dissoziativen Identitätsstörung hat auch das Ausmaß der erlittenen Traumatisierung. So bestehen z.B. für Betroffene, deren Erkrankung durch ein verfrühtes Aufwachen aus der Narkose verursacht wurde, meist bessere Aussichten auf Heilung. Eine stark ausgeprägte Begleitsymptomatik (z.B. Essstörungen, Alkoholmissbrauch) können die Behandlung oft komplizieren.